Ein PO sortiert in einem Raum mit einem brennenden Team das Board

Wenn alles brennt: Vom Priorisieren zum Triagieren

Montagmorgen, 9:15 Uhr. Der Slack-Channel des Teams steht in Flammen. Drei neue P1-Tickets, ein kritisches System ist ausgefallen, zwei Kunden eskalieren gleichzeitig. Der Product Owner klebt hastig weitere Post-its an das ohnehin schon überfüllte Board, einige davon tragen aus Frust den Aufkleber “P0”. Im Hintergrund sitzen Entwickler vor ihren Bildschirmen, müde, mit dunklen Augenringen, einer tippt genervt ein “🔥🔥🔥” in den Chat.

Wenn alles dringend ist, ist am Ende gar nichts mehr dringend. Das Team rutscht in einen Zustand, in dem es nicht mehr gestaltet, sondern nur noch versucht, das Schlimmste zu verhindern. Aus Priorisierung wird Triage.

Priorisieren, solange das System gesund ist

Viele Teams arbeiten mit drei groben Prioritäten. P1 ist für Aufgaben, die sofort erledigt werden müssen. Jede Verzögerung hätte ernste Folgen. P2 sind Aufgaben mit festen Deadlines, die zwar wichtig sind, aber noch etwas Zeit haben. P3 schließlich sind Themen ohne festen Termin – Dinge, die man angeht, wenn Luft dafür ist.

In einem gesunden Team sorgt diese Einteilung für Ruhe. Man weiß, was zuerst erledigt wird, was geplant werden kann und was warten muss. So entsteht ein stabiler Fluss, und die Arbeit erzeugt spürbaren Nutzen.

Doch dieses System hat eine Grenze. Erst bleiben ein paar P3-Aufgaben liegen, was noch völlig normal ist. Dann geraten P2-Themen ins Rutschen, Deadlines werden geschoben. Spätestens wenn selbst P1-Aufgaben nicht mehr zuverlässig fertig werden, ist klar: Hier wird nicht mehr priorisiert, hier wird triagiert.

Der Ursprung des Begriffs

Der Ausdruck Triage kommt aus der Notfallmedizin. Nach einem schweren Unglück müssen Ärzte in kürzester Zeit entscheiden, wen sie zuerst behandeln. Manche Patienten können warten, andere brauchen sofort Hilfe – und in tragischen Fällen gibt es Menschen, die selbst mit allen verfügbaren Ressourcen kaum eine Überlebenschance hätten.

Im normalen Krankenhausbetrieb würde man auch um diese Patienten kämpfen. Doch wenn die Ressourcen nicht ausreichen, müssen Entscheidungen getroffen werden, die unter normalen Umständen undenkbar wären: Einige Patienten werden gezielt zurückgestellt, um möglichst viele andere retten zu können.

Das Ziel ist nicht Gerechtigkeit, sondern Schadensbegrenzung. So viele Menschen wie möglich sollen überleben, auch wenn das harte Entscheidungen erfordert.

Übertragen auf Softwareentwicklung bedeutet das: Das Team kann nicht mehr alles liefern, was wichtig ist. Es geht nicht mehr um die beste Lösung oder den größten Nutzen, sondern nur noch darum, den größten Schaden abzuwenden.

Wenn Triage zum Alltag wird

Triage in Softwareteams schleicht sich ein. Von außen betrachtet sieht man erst kleine Risse: Deadlines werden gelegentlich verschoben, Aufgaben bleiben länger liegen, die Stimmung kippt leicht ins Hektische. Dann beschleunigt sich der Zerfall.

Plötzlich sind fast alle Tickets P1. Niemand traut sich, “Nein” zu sagen. Entwickler springen von einer Eskalation zur nächsten, ohne je etwas richtig abzuschließen. Wichtige, aber nicht akute Themen wie Architektur, technische Schulden oder Qualitätssicherung verschwinden komplett aus dem Blickfeld. Immer öfter verschieben sich Termine, weil einfach nicht genug Zeit da ist.

Nach außen wirkt das wie permanentes Feuerlöschen. Von innen fühlt es sich schlimmer an: Arbeit verliert ihre Struktur und ihren Sinn.

Die psychologische Seite

Im Normalzustand weiß ein Team, warum es arbeitet. Es sieht Fortschritte, kann den eigenen Beitrag zur Wertschöpfung erkennen. Das motiviert und gibt Orientierung.

Im Triage-Modus verändert sich dieses Gefühl. Plötzlich geht es nur noch darum, Verluste zu begrenzen. Das, was nicht geschafft wird, hinterlässt Schuldgefühle. Das, was geschafft wird, sieht niemand, weil sofort die nächste Eskalation beginnt.

Irgendwann redet niemand mehr über neue Ideen oder Verbesserungen. Stattdessen geht es nur noch darum, wer Schuld trägt. Manche werden zynisch, andere ziehen sich innerlich zurück. Burnout und Fluktuation sind dann keine abstrakten Risiken mehr, sondern die logische Folge.

Mehr Leute, mehr Chaos

Wenn Teams am Limit sind, wird oft reflexartig nach mehr Personal gerufen. Das klingt vernünftig, löst aber selten das eigentliche Problem.

Neue Leute müssen eingearbeitet werden. In dieser Zeit sinkt die Leistung sogar, weil erfahrene Teammitglieder weniger schaffen, während sie die Neuen betreuen. Je größer ein Team wird, desto mehr Zeit geht für Abstimmung und Koordination drauf.

Es ist wie beim Kochen: Ein Hähnchen wird bei 200°C nach ein bis zwei Stunden perfekt. Dreht man den Ofen auf 800°C, ist es nach wenigen Minuten nur noch Kohle. Mit Teams ist es genauso – mehr Hitze bringt nicht zwangsläufig ein besseres Ergebnis, sondern oft nur Chaos.

Wenn ständig nach mehr Leuten gerufen wird, ist das oft ein Symptom. Das eigentliche Problem liegt meist tiefer: fehlender Fokus, zu viele parallele Projekte oder Entscheidungen, die keiner treffen will.

Der Weg aus der Triage

Ein Team kommt nicht allein aus diesem Zustand heraus. Es braucht Führung, die klare Prioritäten setzt und den Mut hat, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Der erste Schritt: radikal ehrlich sein. Nicht alles kann P1 sein. Man muss akzeptieren, dass manche Themen bewusst verschoben oder sogar gestrichen werden. Machmal muss man ganze Projekte einstampfen. Wo wird tatsächlich Geld verdient, wo nicht? Was brauchen wir wirklich? Teams müssen umgestaltet werden, auch wenn Veränderung immer erstmal weh tut.

Dann gilt es, den Arbeitsfluss zu stabilisieren. Weniger parallel anfangen, mehr abschließen. Langfristige Themen wie Architektur oder technische Schulden dürfen nicht mehr unter den Tisch fallen. Und Führungskräfte müssen lernen, “Nein” zu sagen nicht zu den Menschen, sondern zu den Aufgaben, die das Team überfordern.

Nur so kann das Team wieder gestalten, statt nur noch zu reagieren.

Ein kurzer Ausnahmezustand ist normal

Natürlich gibt es Momente, in denen alles auf einmal zusammenkommt – ein großes Release, ein wichtiger Kunde, ein ungeplanter Ausfall. Kurze Phasen, in denen triagiert wird, sind unvermeidlich und manchmal sogar notwendig. Aber sie müssen die absolute Ausnahme bleiben.

Wenn Triage zur Routine wird, verliert das Team die Kontrolle über seine Arbeit. Dann geht es nicht mehr um Wertschöpfung, sondern nur noch ums Überleben. Und am Ende bleibt statt echter Ergebnisse nur noch ein Gefühl von permanentem Scheitern.